Erinnerung ist noch nicht fertig

Bischof Manfred Scheuer und Clemens Frauscher vom St. Barbara Friedhof im Gespräch über Abschiede und Erinnerung an Verstorbene. 

Herr Bischof, wie pflegen Sie persönlich die Erinnerung an Verstorbene?

Bischof Manfred Scheuer: Ich gehe regelmäßig an die Gräber meiner Eltern oder auch von Verwandten und Freunden. Auch spreche ich mit meinen Vertrauten, Geschwistern oder Freunden über die Verstorbenen und dieses Gespräch ist etwas sehr Tröstliches. So verwandelt sich die Trauer. Es bleibt immer die Frage auch nach unversöhnten Resten, nach noch nicht geheilten Resten: Im Leben ist nicht immer alles abgeschlossen oder fertig. Auch die Verstorbenen sind noch nicht „fertig“ in meiner Erinnerung. Das verändert sich im Verlauf der Jahre immer wieder. 

Welche Rolle spielt ein Friedhof für trauernde Menschen? 

Clemens Frauscher: Für mich ist der Friedhof jener Ort, wo sich die schmerzliche akute Trauer im Laufe der Zeit in gute Erinnerung an einen Verstorbenen verwandeln darf und kann. Erinnerung ist Gegenwart. Jemand Verstorbenen am Grab zu besuchen ist für die Person, die es tut, ja Gegenwart. Ich erlebe immer wieder, dass es Menschen hilft, dass sie ein Grab am Friedhof haben zu dem sie gehen können. Es gibt Menschen, die kommen fast täglich und richten mit liebevollen Gesten irgendetwas am Grab her. Es gibt Menschen, die kommen vielleicht nur ein paar Mal im Jahr oder zu Allerheiligen. Beim Familiengrab am Friedhof kann man den eigenen Kindern von den Großeltern erzählen und vielleicht sogar deren Erzählungen viele Jahrzehnte danach weitergeben. In einer Zeit schneller Veränderungen tut es gut,  die eigene Herkunft bewusst wahrzunehmen. 

Scheuer: Die Friedhöfe sind ein Gedenkort und ein Begegnungsort. Auch mit den Verstorbenen. Natürlich fühlt man sich auch so mit den Verstorbenen verbunden. Am Friedhof können nicht nur die unmittelbar Nahestehenden, sondern auch Freunde, Berufskollegen oder Nachbarn ihre Beziehung mit dem Verstorbenen pflegen. Und beispielsweise für ältere Menschen ist es wichtig, dass sie zum Trauern wo hingehen können, wo sie dann auch wieder weggehen. Blumen oder Kerzen auf das Grab zu stellen tut gut. Das sind ja Zeichen der Hoffnung, Zeichen des Lebens und Zeichen des Lichtes. 

Welche Rolle spielt dabei die Natur am Friedhof? 

Scheuer: Dass die Friedhöfe eingebunden sind in einen Naturraum – ich denke, das ist etwas sehr Tröstliches, weil die Erfahrung der Natur einen Trost schenkt im Werden und Vergehen, im Wachsen und Reifen und Sterben. Wobei die Natur selber die Toten nicht lebendig macht. 

Frauscher: Vielfach höre ich, dass Menschen diesen schön gepflegten Naturraum mitten in der Stadt als bergend und tröstlich erleben – gerade auch im Lauf der Jahreszeiten. Daher ist uns am St. Barbara Friedhof eine naturnahe Bewirtschaftung und regelmäßige Aufforstung sehr wichtig. Viele Tiere leben am Friedhof, es gibt sogar einen eigenen „Barbara-Honig“, den unsere Bienen produzieren. So verwandelt sich die Landschaft der Stille zum artenreichen Biotop – einen Ort des Lebens.

Bestattung, Totengedenken und Erinnerung an Verstorbene werden immer individueller. Wie stehen Sie dazu? 

Scheuer: Grundsätzlich halte ich es natürlich für wichtig wahrzunehmen, dass der Tod etwas Höchstpersönliches ist. Das heißt er ist nicht einfach ein Serienprodukt. Ich begrüße es aber nicht, dass der Tod rein individualisiert wird. Jeder Mensch steht in Beziehung und darum braucht es gemeinsame Rituale: zum Abschiednehmen, zum Trauern, zum Mahlhalten, zum Trösten und zum neu Ausschauhalten. Gerade in den schweren Stunden des Lebens tut es gut, miteinander ein Vaterunser beten zu können, ein Kreuzzeichen zu machen oder einen Segen zu spenden. Und diese Rituale sind ja auch Formen der Zugehörigkeit. Sie sind Ausdruck einer gläubigen Gemeinschaft und auch einer solidarischen Gemeinschaft.

 


Onlineversion des Interviews vom 11. Oktober 2025 in den OÖN. Fotos: Claudia Erblehner