Abschiedskultur: „Ein Friedhof ist geduldig“
In der heutigen, hektischen Welt geht es oft ums ständige Verfügbarsein. Da ist ein Ort wie der Friedhof wie eine wohltuende Oase. Er erwartet keine Leistung, keine Likes. Darüber und über vieles andere mehr sprechen Martin und Julia Dobretsberger von der Bestattung Dobretsberger und Clemens Frauscher, Verwalter des St. Barbara Friedhofs, im Interview mit Lisa-Maria Langhofer.

Trauern heutige Generationen anders als frühere? Gibt es zum Beispiel bei Trauerfeiern bemerkenswerte Unterschiede?
Martin Dobretsberger: Das eine ist die Trauer und das andere die Trauerfeier. Die Trauer ist ein Abschiedsprozess, der eine lange zeitliche Wegstrecke abbildet. Abschied und Trauer findet schon dort statt, wo die Blüte des Lebens überschritten ist und Alter und Krankheit immer mehr Raum einnehmen. Der Tod markiert die Stelle, wo das greifbare Leben gänzlich endet. Darf die Beziehung zu dem Verstorbenen überhaupt noch sein in Form von Liebe oder Freundschaft, wenn der andere als Mensch nicht mehr ist? Das ist die Phase der Unsicherheit, die wir als Akuttrauer durchleben. Darum ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die diese Phase begleiten und Sicherheit vermitteln. So kann die Liebe zu dem Menschen wieder erstarken.
Dann gibt es die Trauerfeier als Initialisierungsritual dieses Moments. Und die ist ein Fest. Die Trauerfeier markiert einen massiven Wendepunkt des Lebens, wie viele Hochfeste. Sie soll zeigen, wie viel Leben da ist. Natürlich kann man die Trauerfeier immer noch ein wenig aufblasen und noch ein wenig opulenter gestalten. Im Kern geht es aber darum, hinzuschauen und zu erkennen, wo dieses Leben in meinem Leben Spuren hinterlassen hat. Und wenn mir das gelingt, dann kann ich das greifbare Leben loslassen und den Verstorbenen in meinen Charakter und meine Persönlichkeit integrieren.
Julia Dobretsberger: Und gleichzeitig spricht nichts dagegen, die Trauerfeier individuell zu gestalten. Man muss einfach überlegen, was der Zweck dahinter ist. Habe ich zum Beispiel einen besonderen Musikwunsch, weil es der Persönlichkeit des Verstorbenen entspricht, dann hat das in einer Trauerfeier Platz. Oder man nimmt persönliche Gegenstände mit in die Trauerfeier. Trägt es dazu bei, dass es für mich eine gefühlsbetonte, tiefgehende Abschiedsfeier ist, dann ist das gut. Aber das soll mich nicht davon ablenken, worum es eigentlich geht.
Wie geht man damit um, wenn der oder die Verstorbene bestimmte Wünsche für die Bestattung oder die Trauerfeier hinterlassen hat, die Angehörigen aus verschiedenen Gründen damit aber nicht einverstanden sind? Wessen Wünsche gehen vor?
Martin Dobretsberger: Grundsätzlich glaube ich, dass die Aufgabe von Bestattern - aber auch Friedhöfen - nicht nur die Erfüllung von Wünschen ist, sondern ganz besonders die Erfüllung von Bedürfnissen, die hinter diesen Wünschen stehen. Wenn ich das Bedürfnis erfrage und erfahre, dann kann ich Kompromisse finden. Wenn sich der Verstorbene zum Beispiel wünscht, dass alle in bunter Kleidung zum Begräbnis kommen, dann liegt dahinter vielleicht die Sorge, dass alle sehr traurig sind. Die Familie möchte aber in Schwarz kommen, weil es für sie der einzig wahre Ausdruck von Trauer ist, gleichzeitig ist es für sie vielleicht viel wichtiger, mehr Fokus auf das Leben des Verstorbenen zu legen. Vielleicht war er zum Beispiel ein humorvoller Mensch. Dann kann man auch die Trauerfeier mit einem gewissen Humor garnieren. So müssen die einen sich nicht etwas anziehen, wo sie sich unwohl fühlen und auch das Bedürfnis des Verstorbenen ist erfüllt.
Clemens Frauscher: Am St. Barbara Friedhof machen wir die Erfahrung, dass es oft einfach an Wissen fehlt, wenn es um die Ausrichtung einer Abschiedsfeier oder die Grabgestaltung geht. Bei einem Grab sollte man sich nicht nur mit der optischen Gestaltung, sondern auch mit der Frage der längerfristigen Pflege beschäftigen. Auf einem grünen Friedhof darauf man nicht alles mit Plastik und Stein zumachen. Darum bieten wir für An- und Zugehörige viel persönliche Beratung an.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Erde beim letzten Gang des Menschen?
Martin Dobretsberger: Realistischerweise betrachtet ist die Erde der einzige letzte Ruheort. Es gibt keine andere Form. Jede Urnennische wird irgendwann aufgelassen - genauso wie jede Gruft. Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt, außer das, was in die Erde gelangt. Wir können über vielfältigste Formen von Depositionen und Beisetzungen diskutieren. Aber am Ende wird jeder Verstorbene irgendwann in der Erde sein, insofern ist sie etwas sehr Authentisches. Die Erde ist auch etwas sehr Versöhnliches, weil daraus immer wieder etwas Neues wächst. Sie spiegelt den Kreislauf von Sterben und wieder zu etwas Fruchtbarem werden am besten wieder. Das postulieren auch viele Glaubensrichtungen.
Clemens Frauscher: Bei Erdbestattungen von Särgen ist der Moment der tiefsten Trauer jener, wo der Sarg in die Erde hinuntergeht. Bedenken gegenüber der Erdbestattung sind oft verbunden mit diesem abrupten Abschiednehmen. Wir wissen aus der Beratung von An- und Zugehörigen, dass die Entscheidung für eine Wandnische oder eine Erdkammer für eine Urne dadurch beeinflusst wird, dass der Eindruck entsteht, der Verstorbene sei in der Nische noch näher bei mir. Er sei noch nicht ganz verloren. Aus der Trauerpsychologie wissen wir aber, dass dieser Abschied einfach notwendig ist, auch wenn er schmerzhaft ist. Steht die Urne zuhause ständig im Herrgottswinkel über dem Esstisch, wird die Trauerarbeit meiner Ansicht nach - und nach Ansicht vieler Psycholog:inen - erschwert und unnötig prolongiert. Hilfreich für die Bewältigung der Trauer ist dagegen ein Ort wie der Friedhof, wo man hingehen und auch wieder weggehen kann.
Ist auch die Grabpflege eine Art der Trauerbewältigung?
Clemens Frauscher: Ja, absolut. Und wenn es nur das Geraderücken des Engerls ist, weil es der Wind verschoben hat oder die abgebrannte Kerze auszutauschen. Ich gehe wirklich oft über den Friedhof und sehe häufig, wie jemand mit liebevollen Gesten am Grab etwas herrichtet. Ich habe dann immer den Eindruck, das ist Teil der Kommunikation mit dem Verstorbenen. Man sagt auf diese Art: ‚Du sollst es schön haben‘.
Julia Dobretsberger: Grabpflege ist eine ganz reale Handlung, die ein trauernder Menschen machen kann. Wenn meine Oma zum Beispiel Stiefmütterchen geliebt hat, kann ich ihr in meiner Wahrnehmung durch das Anpflanzen von Stiefmütterchen eine Freude machen. Es hat eine Außenwirkung für mich, es ist sichtbar. Es ist nicht nur ein innerer Dialog, sondern Selbstwirksamkeit.
Mittlerweile gibt es mehr Urnenbestattungen als Sargbestattungen in Österreich, auch in Oberösterreich. Was sind die Gründe dafür?
Martin Dobretsberger: Der Trend zur Urnenbestattung hat viele Gründe. Einerseits wird oft die Verabschiedung des Sarges Richtung Krematorium als sanfter empfunden, weil man eben nicht am Erdgrab steht. Das Hineinlegen der Urne in die Erde wird als weniger intensiv wahrgenommen. Eine Urne ist an sich abstrakter - man kann sich nicht vorstellen, dass das der Mensch ist, weil die Urne so klein ist. Entsprechend muss der Bezug zur Urne überhaupt erst aufgebaut werden.
Julia Dobretsberger: Ich denke, der Tod muss begreifbar sein. Für mich ist es ganz wichtig, dass es die Möglichkeit gibt, mich persönlich zu verabschieden. Es braucht das Angreifen, ansehen, selbst wahrnehmen. Und deswegen ist der Schritt zur Urne, wenn ich vorher diese Möglichkeit des Abschieds vom toten Körper nicht gehabt habe, ein sehr großer. Wenn ich den Sarg sehen, berühren oder öffnen kann, ist mir einfach klarer, dass das Leben endlich ist.
Clemens Frauscher: Viele vermuten, dass eine Urnenbestattung erheblich kostengünstiger ist als eine Sargbestattung. In beiden Fällen kommt es darauf an, wie die Abschiedsfeier konkret gestaltet ist. Jedenfalls braucht man zur Urnenbestattung auch einen Kremationssarg. Wichtig finde ich für die Trauerbewältigung eine Verabschiedung am Sarg – also in der Nähe des Leichnams – zu gestalten. Der alleinige Abschied an einer Urne ist wenig kraftvoll. Es gibt Priester, Seelsorger:innen und Trauerredner:innen, die bei der Abschiedsfeier einladen, nochmal zum Sarg zu gehen und die Hände daraufzulegen. Bei einer Urnenbestattung empfehle ich zwei Feiern zu machen: Die Verabschiedung am Sarg in der Abschiedshalle kann eine Feier für einen breiteren Kreis von Menschen sein, die den Verstorbenen gekannt haben und sich an ihn oder sie erinnern. Eine Urnenbeisetzung draußen an Friedhof kann im kleinsten Kreis stattfinden und hat somit auch Platz für intimere Momente.
Wir leben ja im Zeitalter der Digitalisierung. Welche Rolle spielen aktuell digitale Trauerformate?
Clemens Frauscher: Aktuell haben wir am St. Barbara Friedhof einen Friedhofsführer mit QR-Codes auf Gräbern von Prominenten und anderen Denkmälern. Das wird sehr gern genutzt. So etwas wäre aber doch etwas anderes bei Privatgräbern. Wir denken darüber nach, wie da eine dauerhafte Erinnerung im digitalen Raum aussehen könnte, die hochwertig gestaltet ist und nicht einfach nur das verdoppelt, was die meisten Bestatter:innen sowieso an virtuellen Gedenkmöglichkeiten anbieten. Auf den Friedhof zu gehen, anfangs in Trauer, später in Erinnerung an den Verstorbenen, ist ganz sicher nicht 1:1 im Internet nachzubilden. Es ist bedeutsam physisch vor Ort zu sein. Und: von einem Friedhof kann man auch wieder weggehen und die Erinnerung an der Grabstelle zurücklassen.
Julia Dobretsberger: Digitale Medien sind gut für die Kommunikation. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass es ein Ort braucht, wo die Trauer ist. Wo ich einfach mal Pause vom Alltag habe. Im städtischen Bereich ist der Friedhof außerdem oft ein Ort der Natur. Da sind Bäume und Tiere, da habe ich ein ganz intensives Naturerlebnis. Der Friedhof ist für mich Ort der Ruhe, des Lebens, des Erinnerns und auch der Ort, wo ich meine Wurzeln spüre. Meiner Außenwelt ist ganz klar, dass ich dort meine Ruhe haben möchte. Es wird respektiert, dass der Friedhof ein Ort der Besinnung ist, der Gedanken oder der guten Gespräche.
Martin Dobretsberger: Die Trauer selbst lässt sich nicht digitalisieren. Der Friedhof und das Grab am Friedhof haben die unglaubliche Qualität, geduldig zu sein. Das kennen wir in dieser Welt gar nicht mehr. Er sagt nicht, oh, seit zwei Tagen haben Sie keine Kerzen mehr auf dem Grab ihrer Mutter angezündet, das müssen Sie jetzt mal wieder machen. Der Friedhof wartet auf mich, wartet, bis ich wiederkomme. Und wenn ich länger nicht komme, wirft er mir auch nichts vor.
Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Endet Trauer irgendwann?
Clemens Frauscher: Das schönste ist, wenn sich die akute Trauer irgendwann zu einer schönen Erinnerung entwickelt. Die Erinnerung kann trotzdem noch einen sentimentalen oder traurigen Anteil haben. Das schließt nicht nur die Eltern ein, die mich bis hierher begleitet haben, sondern auch die Ahnen im weitesten Sinne. Die Familie macht einen wesentlichen Teil des Einflusses auf das eigene Leben aus. Bei renommierten Familiengruften – manche gehen 200 Jahre zurück - gibt es immer wieder Diskussionen, ob diese noch weitergeführt werden sollen, weil unter anderem Renovierungskosten anfallen. Eine Dame, die einer adeligen Familie entstammt und jetzt in München lebt, besuchte eines Tages ihre Familiengruft am St. Barbara Friedhof. Als sie davorstand und die Namen las, die sie teilweise nur aus Erzählungen oder Geschichtsbüchern kannte, war sie dermaßen ergriffen, dass sie sagte, sie will die Gruft verlängern, renovieren und so weiter. Es hat also eine Kraft, wenn man sich erinnert.
Martin Dobretsberger: Wir empfinden zu einem Menschen Liebe, in Form von Freundschaft, Verbundenheit oder Bewunderung. Trauer ist die verunsicherte Liebe. Und die braucht über eine gewisse Zeit eine sichere Begleitung, damit sie wieder erstarken kann. Und wenn sie wieder erstarkt ist, dann hat die Trauer nicht geendet, sondern die Trauer, die immer Liebe war, hat sich gewandelt. Und die Erinnerung, die uns dadurch trägt, ist die Ausdrucksform der Liebe und ein Zeichen dafür, dass sie noch lebendig ist.
Julia Dobretsberger: Wenn ich im Leben ins Schwanken komme, dann brauche ich Stabilität. Und was gibt mir Stabilität? Meine Wurzeln zu spüren. Der Friedhof ist ein Ort, wo man seine Wurzeln wahnsinnig gut spüren kann.

Martin Dobretsberger (links): Der Jurist Martin Dobretsberger übernahm 2007 des traditionelle Familienunternehmen „Bestattung Dobretsberger“. Für ihn ist der Beruf des Bestatters ein extrem dankbarer, weil die Menschen tendenziell besser hinausgehen, als sie hereinkommen. Martin Dobretsberger ist Innungsmeister der Bestatter:innen in Oberösterreich.
Julia Dobretsberger (Mitte): Ursprünglich als Polizistin tätig, ist Julia Dobretsberger der Liebe wegen zum Bestatter:innenberuf gekommen. Sie staunte über das große Aufgabengebiet, die vielfältigen Möglichkeiten in der Begleitung und wie sehr man seine eigene Persönlichkeit einbringen kann.
Clemens Frauscher (rechts): Der Friedhofsverwalter Clemens Frauscher ist ausgebildeter Touristiker und war im Management im Handel und der Dienstleistungsbranche tätig. Seine Tätigkeit am St. Barbara Friedhof seit 2009 versteht er weniger als „Verwalter“ denn als „Gestalter“. Eine würdige Abschiedskultur ist ihm ein großes Anliegen.
Erstmals erschienen in einer Beilage des St. Barbara Friedhofs in den OÖN, 1. Oktober 2023.