Auf dem Weg ins Ungewisse - Leona Siber und Andreas Thaller über das Ungewisse angesichts der Gewissheit des Todes

Begleitet von wundervoll einfühlsamen und die jeweilige Stimmung aufgreifenden hochklassigen Klavierimprovisationen vermittelten Texte und Lieder die Wut, Trauer und Angst aber auch die Hoffnung von Menschen in der Begegnung mit dem Tod. 

Fast 70 Personen füllten am 13. Oktober 2020 die große Abschiedshalle des Linzer St. Barbara Friedhofs nach Corona-Maßstäben praktisch zur Gänze. 

Trotzdem hätte man in den 75 Minuten des fesselnden Programmes jederzeit eine Stecknadel fallen hören können, so fokussiert und konzentriert war das Publikum auf die Rezitation und Musik. 

Eindrucksvoll schon der erste Auftritt. Nach lautem Klopfen an den Pforten der Abschiedshalle erscheint Leona Siber von draußen vom Friedhof kommend. Mit den ersten wuchtigen Klavierclustern von Andreas Thaller beginnt sie als „Ackermann aus Böhmen“ (von Johannes Tepl, um 1400) ihrer Trauer um einen geliebten Menschen freien Lauf zu lassen und mündet in eine Wutrede, eine Anklage und Beschimpfung des Todes. 

Zur Ruhe gekommen und etwas nachdenklicher, allerdings nach wie vor in düsterer Gemütsverfassung gestalten sich die drei folgenden Thomas Bernhard Gedichte (aus „in hora mortis – warum fürchte ich mein Altern“, „unter dem Eisen des Mondes – Horch im Wind wehn Ängste“ und „neun Psalmen – ich fürchte mich nicht mehr“).

Mit einem Auszug aus Christoph Schlingensiefs: „So schön wie hier kann´s im Himmel gar nicht sein“ (Tagebuch einer Krebserkrankung) wird es nun endgültig traurig, dem entsprechend gibt Andreas Thaller der Musik nun eine zunehmend tonalere Note, unterstützt musikalisch den erzählenden Ton des Tagebuchs und kommentiert geschickt den Inhalt in kleineren Soli.

Aus dem Pochen eines einzelnen Tons entsteht im Folgenden ein kleiner Popsong zu den Versen von Erich Frieds „Traum“.

Aufwühlende und nachdenklich stimmende Einblicke in die Arbeit eines Bestatters liefern die beiden Auszüge aus Mario Schlembachs „Nebel“, die nur durch das verträumte, durchaus optimistische und zum schmunzeln einladende Gedicht Mascha Kalekos „Ein sogenannter schöner Tod“ unterbrochen werden.

Mit den beiden Bachmann Gedichten „Strömung“ und „Entfremdung“ nimmt das Geschehen erneut eine Wendung. Musikalisch wie inhaltlich wird es abstrakter, herber und kühler bis die Musik beim letzten Satz: „Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen“ zum ersten Mal gänzlich verstummt.

In diese Stille der Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit hinein erklingt die süße, zunächst einstimmig intonierte Melodie von Schuberts „Der Lindenbaum“ im Klavier. Gekonnt wechselt Leona Siber in diesem Lied zwischen volksliedhaftem Gesang, verträumtem Summen und über die Musik gesprochenem Text. Das Nachspiel bringt eine Verfremdung der Musik mit sich und macht die Bühne frei für Erwin Ringels Äußerungen zu Schuberts Winterreise aus der Sicht des Psychiaters und Suizidforschers („Die Winterreise - eine Wanderschaft in den Tod“).

Nach Schubert und den Gedanken Ringels zur österreichischen Mentalität ist es auch zum Wienerischen und zu H.C. Artmann nur noch ein Katzensprung. Andreas Thaller unterlegt dem Gedicht „Waun e schdeam soit“ aus „Med ana schwoazzn dintn“ einen Blues und sorgt damit für ein Ambiente, in dem sich vor allem auch Leona Siber als geborene Wienerin in ihrer Haut pudelwohl zu fühlen scheint und zur Höchstform aufläuft. 

Ernüchterung und Erschütterung folgt mit dem zweiten Schlingensief Intermezzo, diesmal geprägt von Fassungslosigkeit und dem für ihn typischen provokativen, aufbegehrenden Ton. 

Das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse ermöglicht im Anschluss eine Verschnaufpause. Die fast schon kitschig schöne Musik dazu schafft notwendige Versöhnung und Erleichterung. 

Kurz vor dem Ende steuert das Duo noch einen letzten Höhepunkt an und entführen das Publikum in die Erlebniswelt von Peter Nadas, der in „Der eigene Tod“ seine Nahtod Erfahrung in Folge eines Herzinfarkts mit Reanimation schildert. 

Manch leise Tränen unter den Anwesenden waren Folge der Intensität und der berührenden und professionellen Art dieses Schauspiels aus Wort und Musik.

Nachdem sich zum teilweise gesungenen „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ (Friedrich Rückert/Gustav Mahler) die Wände des sogenannten „Erdortes“ der schönen Abschiedshalle des St. Barbara Friedhofs um das Klavier und die beiden Protagonisten langsam geschlossen hatten, belohnte zu Recht minutenlanger Applaus diese wohl einzigartige Darbietung. 

Die Reihe Blicke auf den Tod 2020 am St. Barbara Friedhof

Einblicke als Video

Teil 1 | Teil 6 | Teil 7 | Teil 9

Bei Interesse senden wir Ihnen gerne einen Link zur Gesamtaufnahme. 

Fotos: Clemens Frauscher / St. Barbara Friedhof