Darf der Tod sinnlich sein?

„Eindeutig ja“, ist man verleitet, zu antworten, nachdem man dieses Musikvideo – entstanden im Herbst 2021 im Barbararaum am St. Barbara Friedhof – gesehen hat: Johanna Rosa Falkingers musikalische Auseinandersetzung mit dem Tod erfährt in der ästhetischen Umsetzung des Schubert-Liedes „So lasst mich scheinen“ eine sinnliche und gleichzeitig transzendente Qualität.

SO LASST MICH SCHEINEN aus:
4 Gesänge aus „Wilhelm Meister“, D.877, op. 62, Nr. 3
Johanna Rosa Falkinger | Sopran und Darstellerin
Leona Siber | Klavier


Das Video ist am Beitragsende zu sehen!

Verstörend und faszinierend zugleich“ empfindet die aus Putzleinsdorf stammende Sängerin die Worte, die Johann Wolfgang von Goethe der geheimnisvollen Kindfigur Mignon gegen Ende seines Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre in den Mund legt – „[…] als fühlte sie etwas, das sie niemandem erklären und das niemand nachvollziehen kann“:

So lasst mich scheinen, bis ich werde;       
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.

Dort ruh ich eine kleine Stille,
Dann öffnet sich der frische Blick;
Ich lasse dann die reine Hülle,
Den Gürtel und den Kranz zurück.

Und jene himmlischen Gestalten
Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib.

Zwar lebtʼ ich ohne Sorg und Mühe,
Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung.
Vor Kummer altertʼ ich zu frühe;
Macht mich auf ewig wieder jung!

Der Text liegt Franz Schuberts 1826 komponierte Vertonung zugrunde, über die Johanna Rosa Falkinger sagt:

„Mich begleitet dieses Lied schon seit Jahren, weil ich mich instinktiv in die Schönheit von Schuberts Komposition verliebt habe. Die Beschäftigung mit dem Text folgte erst später und eröffnete mir einen ganz neuen Blick auf das Werk.

Die Figur Mignon ist in Goethes autobiografischem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ein ungefähr 13-jähriges Mädchen, von dem niemand weiß, woher es kommt (man vermutet südländische Herkunft) und das mit einer Schausteller-Truppe umherzieht und Kunststücke aufführt. Als die Hauptfigur des Romanes, Wilhelm Meister, sieht, wie sie dort geschlagen wird, kauft er sie der Truppe ab. Sie erkennt ihn nun als ihren Herren, Beschützer, Vater und Freund an. Das geheimnisvolle Mädchen, das oft unverständliche und vor allem unkindliche Aussagen von sich gibt, hat in dem Roman mehrere Auftritte und auch Gesänge. „So lasst mich scheinen“ ist der letzte. In dieser Szene hat Mignon zum ersten Mal ein Kleid an, um einen Engel für eine Gruppe Kinder zu spielen. Schlussendlich will sie gar nicht mehr aus ihrer Verkleidung heraus, sondern beginnt, dieses Lied zu singen. Es geht eindeutig um den Wunsch, die Erde zu verlassen. Ihre Vorstellung vom Sterben klingt sehr positiv, auch wenn sie am Ende ihren leidvollen Lebensweg nochmal erwähnt, überwiegt doch die strahlende Erwartung, mit der sie ihren nahen Tod vorhersieht.“

Dieses Positive war es auch, das die Sopranistin dazu veranlasste, für das Musikvideo zu dem Lied, dessen Audio-Aufnahme im Mai 2021 gemeinsam mit der Pianistin Leona Siber an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz entstand, den St. Barbara Friedhof auszuwählen: „Im Text geht es um eine scheinbar kindliche, positive Vorstellung des Sterbens. Dazu kam mir der Barbarfriedhof in den Sinn, da dieser Ort für mich ganz viel positive Ausstrahlung und Hoffnung spüren lässt, an dem man sich als lebender Mensch ausruhen und träumen kann.

Gedreht wurde an einem Oktoberabend 2021 im Barbararaum: „Das Besondere ist für mich das Gewölbe, das einen etwas bedrückenden, aber gleichzeitig beschützenden Charakter hat, und die Lampe, die einen magisch anzieht – als wäre sie der Ausweg in die Freiheit“, beschreibt Johanna Rosa Falkinger die einzigartige Atmosphäre des Raumes.

Entstanden ist eine musikalisch wie visuell stimmige, ätherische Aufnahme, die trotz des bedrückenden Inhalts viel Leichtigkeit und Hoffnung sowie Sinnlichkeit versprüht. Clemens Frauscher, kunstsinniger Verwalter des St. Barbara Friedhofs, war gerne bereit, die Türen des ungewöhnlichen Drehortes zu öffnen: „Unsere Intention vom Friedhof war es, diese schöne Idee, die durchaus in ihren teils transzendenten Elementen zum Friedhof und zur Gestaltung des Barbararaumes durch die Künstlerin Margit Hartnagel passt, zu unterstützen …

Unterstützung erfuhr Johanna Rosa Falkinger auch von ihr nahestehenden Menschen, die wesentlich zur Entstehung des Videos beitrugen: „Es war wunderschön, KollegInnen zu finden, die zu diesem Lied ähnliche Emotionen und Vorstellungen haben und dieses Video mit mir produzieren wollten. Danke an Leona Siber, die mich so wunderbar am Klavier begleitet hat und meine Faszination für dieses Lied sofort verstanden hat; an Martin Rainer, der so kreativ mit Kamera, Bildeinstellung und Schnitt hantiert hat; an meine Cousine Magdalena Hofer, die sich intensiv mit dem Stoff vor und hinter der Kamera beschäftigt hat und nicht zuletzt an Clemens Frauscher und den St. Barbara Friedhof Linz für die freundliche Aufnahme und die gute Energie im Barbararaum.

Autorin: Romana Gillesberger